Die „andere“ Armut ist (noch) schmerzlicher
Armutsberichte gibt’s zuhauf. Sie unterscheiden sich
allenfalls in Nuancen. Gemeinsam haben sie, dass sie in der Regel „nur“ auf
Geld blicken, Wohlstand - oder eben den fehlenden - weit überwiegend daran festmachen,
ob und wie viel Geld zur Verfügung steht.
Seit 1950 führt das Statistische Bundesamt ziemlich präzise
Buch darüber, was wir Deutschen uns leisten, und wie sich Kaufkraft und
Inflationsrate entwickeln. Die Statistiker packen hierzu einen „Warenkorb“ mit
den zu der jeweiligen „Einkaufszeit“ zeittypischen Gütern und Dienstleistungen.
Da der Inhalt dieses „Warenkorbes“ immer wieder aktualisiert wird, sieht man,
wie sich Einkommen, Kaufkraft, Lebensverhältnisse und auch unsere Ansprüche
kontinuierlich verändert haben. In den 1960er Jahren - immerhin die Jahre des
„Wirtschaftswunders“ - waren unter der Rubrik „langlebige Wirtschaftsgüter“
eine Nähmaschine, unter „Sport- und Campingartikeln“ die Luftmatratze und unter
„Gemüse“ ausschließlich heimisches aufgeführt worden. Heute sind u. a.
aufgeführt: Snowboard, Tennisschläger und Inline-Skates dazu die vielen neuen
elektronischen Geräte, die in immer schnelleren Zyklen auf den Markt kommen,
aber dennoch stets aktuell für den „Warenkorb“ „eingekauft“ werden.
Mit Ausnahme der zweifellos besonders wichtigen Bereiche
Miete, Kinderbetreuung und Studium ist die Entwicklung der Preise weit hinter
dem Anstieg der Löhne und der Kaufkraft zurückgeblieben. Arbeitnehmer müssen
heute für die meisten Dinge des täglichen Lebens deutlich kürzer/weniger
arbeiten. Susanne Gaschke hat dies in diesen Tagen in der WELT mit der
„Eierkaufkraft“ belegt: 1960 musste man nach Berechnungen des Instituts der
Deutschen Wirtschaft für 12 Eier eine Stunde arbeiten; heute bringt eine Arbeitsstunde
70 Eier! Gaschke: „Der gewaltige Zuwachs in der „Eierkaufkraft“ zeigt wie viele
andere Indikatoren auch, was für ein reiches Land Deutschland geworden ist. Und
wir nehmen das als selbstverständlich hin“.
Und so ein reiches Land will natürlich keine Armut in seinen
Grenzen haben. Deshalb gibt Deutschland 40 Prozent seines Bundeshaushalts, über
120 Milliarden Euro jährlich, für Soziales aus. Zur anschaulichen
Verdeutlichung: Das entspricht einem
kompletten Bundeshaushaltsvolumen der 1980er Jahre!
Wie kann es sein, dass trotzdem - so gerade reichlich hoch
greifend der Paritätische Wohlfahrtsverband - ca. 12 Millionen Menschen bei uns
als „arm“ gelten? Und besonders schlimm: Der Kinderschutzbund geht von 2,5
Millionen Kindern „in Armut“ aus!
Zwei mögliche Antworten: Entweder definieren wir Armut
falsch, oder es liegt nicht am Geld.
Bedenklich das Ergebnis einer Bertelsmann-Studie vom Februar
2015. Nach dieser ist für mehr als die Hälfte der Kinder Armut keine
vorübergehende Episode, sondern ein anhaltender Normal- und damit Dauerzustand.
Und noch bedenklicher: Hier wird - kurz gefasst - festgestellt, dass Kinder,
die Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II beziehen, „schlechter Deutsch
sprechen, schlechter zählen können und sich schlechter konzentrieren“.
Wie jetzt? Staatliche, aus Steuergeldern finanzierte Leistung,
die zum Ziel hat, Armut zu verhindern, steht für vielfältige Benachteiligung?
Auch der Armutsbericht der OECD hinkt: nach diesem gilt als „arm“,
wer weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen „bedarfsgewichteten
Nettoeinkommens erreicht“. Wo wird gemessen? Was, wenn ein extrem „Reicher“ in
die Nachbarschaft zieht; steigt dann automatisch die „Armut“?
Fazit: Neben dem Mangel an Geld gibt es eine „andere“ Armut.
Mangel kann sich nämlich auf vieles beziehen: auf Mangel an Bildungschancen,
auf Mangel an gesellschaftlicher Teilhabe etc. Susanne Gaschke: „Bei „Mangel“ geht
es auch um die fehlende Fähigkeit zur Selbstorganisation, um mangelnde
Kenntnisse über gesunde Ernährung, um Suchtprobleme, um Ratlosigkeit in der
Kindererziehung, um die Fehlnutzung von Medien, um eine generelle
Hoffnungslosigkeit“.
Da „mehr Geld“ - siehe die ständig steigenden
Sozialleistungen - anscheinend allein nicht hilft, ist zu fragen, wie weit man
in das Leben von Menschen eigreifen darf, um ihnen zu helfen, ihr Leben zu
meistern. „Wenn es um Kinder geht, herrscht längst ein stillschweigender
Konsens, dass sie in Betreuungseinrichtungen manchmal besser aufgehoben sind
als zu Hause und dass sie hier lernen müssen, was ihnen ihre Eltern nicht
mitgeben können“. Zu Recht setzen unterschiedliche Bundesregierungen seit
Jahren auf den Ausbau der Kinderbetreuung, ob Krippenplätze, Ganztagsschulen
oder „Schwerpunktkitas“ mit zusätzlichen
Mitteln für Sprach- und Integrationsförderung.
Aber trotz alledem: Die Familien sind die Einheiten, die
über das Wohl und Wehe, die über das Schicksal der Kinder entscheiden. Ohne sie
geht es nicht. Gaschke: „Es gibt drei Parameter von Armut, die mit den Familien
zu tun haben und über die wir mehr reden sollten: Das sind, als häufigster
Grund nach Arbeitslosigkeit, Trennungen. Das ist die Kommunikation, das Miteinander-Sprechen
in den Familien. Und das ist das Innenleben, die Familienähnlichkeit oder
–unähnlichkeit der Kitas. Alle drei Punkte haben mit Werten zu tun“.
Lassen Sie mich den Punkt „Kommunikation“ herausgreifen:
Amerikanische Forscher haben herausgefunden, dass vierjährige Kinder aus sog.
„prekären Verhältnissen“ eine geradezu unvorstellbare „Wortlücke“ von 30
Millionen Worten zu beklagen haben, die ihnen nicht gesagt wurden. Eine solche Wortlosigkeit bzw. „Wortlücke“
ist eine „andere“ Form von Armut, die noch schlimmer als die „sonst“
verstandene Armut ist: Sie ver- und
behindert die kognitive Entwicklung des Kleinkinds, was in der Regel nicht mehr
aufgeholt werden kann. Zusätzlich fanden die Forscher heraus, dass Kinder mit
solchen „Wortlücken“ weit weniger Ermutigung und Motivation erfuhren als Kinder
ohne eine solche „Mangel-Kommunikation“.
Es gibt mittlerweile Städte in den USA, die dem
entgegenwirken, indem sie ein Programm auflegen, „bei dem Sozialarbeiter
Familien ganz gezielt zum Sprechen und Vorlesen anregen.
Natürlich wird auch bei uns in vielen Kitas längst liebevoll
vorgelesen. Aber es muss dennoch mehr kommen: „Jedenfalls dann, wenn wir der
„anderen“ Armut, und damit vielleicht der Armut insgesamt ernsthaft den Kampf
ansagen wollen. Dazu gehört eben mehr, als die Kaufkraft aller Menschen in die
Nähe des aktuellen Warenkorbs zu bringen“.
Fazit: Wir müssen über eine Neudefinition von Armut
nachdenken; nicht, um sie „weg zu definieren“, sondern um gezielter zu helfen!
Wir müssen es schaffen, endlich mehr konkrete Mitwirkungs-
und Mitgestaltungsmöglichkeiten für alle in Deutschland Lebenden einzuführen;
nach einer zu verkürzenden „Genehmigungsregelung“ auch für die zu uns
gekommenen Einwanderer, respektive Migranten.
Wir müssen es schaffen, auch gerade die Jugend für diesen,
für ihren Staat, zu begeistern, indem wir sie ernst nehmen und ihnen mehr
Mitwirkungsrechte einräumen.
Wir müssen dafür kämpfen, dass sich weltweit Menschenrechte,
Demokratie, westliche Werte als erstrebenswert erweisen, damit nicht noch mehr
Jahre wie 2013 bilanziert werden: Verlierer ist der Westen mit seinen Werten,
sondern damit schon 2015 wieder festgestellt werden kann: Die Demokratie ist weltweit
wieder auf dem Vormarsch - und findet auch in Deutschland wieder mehr begeisterte
Anhänger!
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