Die globalen Kräfte verschieben sich

Wir leben aktuell in einer Zeit, die in einigen Jahren Historiker rückblickend mit ziemlicher Sicherheit als eine "Zeitenwende" beschreiben werden. Die von im Grunde überschaubaren Ausnahmen abgesehen stabile geopolitische Architektur, in der vor allem die Deutschen es sich bequem eingerichtet haben, verschiebt sich deutlich. Die Welt, und in dieser vor allem Europa, droht in eine gefährliche Schieflage zu geraten. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sprach in diesen Tagen davon, dass die EU gerade "eine Polykrise" durchmache. Die Stichworte dazu: Brexit, Migration, Terrorismus, Populismus, Migration, Trump, Handelskrieg, NATO, ökonomische Bedeutungsverluste der G 7, Nordkorea, Syrien, Iran, Putin, China und nicht zuletzt ja auch Polen und Ungarn, dazuhin noch die Diskussion um die Mitgliedschaft von Ländern des Westbalkan - Themen und Probleme mehr als genug. Alle zusammen, aber auch schon einige davon jeweils ganz für sich alleine genommen zeigen die geopolitischen Erschütterungen und Verschiebungen auf, deren wir uns zu stellen haben.
Lassen wir erst einmal die macht- sprich: militärpolitischen Aspekte beiseite und wenden uns der Verschiebung der ökonomischen Gewichte in der Weltwirtschaft zu, dann sehen wir, dass der Beitrag der etablierten Industrienationen, der G 7, zur Weltwirtschaft kontinuierlich im Sinken begriffen ist: Schon heute sind die G 7-Länder nicht mehr die sieben größten Volkswirtschaften der Welt. Künftig wird die Bedeutung der Schwellenländer als globale Innovationsstandorte noch wichtiger. Ihr enormes Wachstum wird die globalen Kräfte weiter verschieben. Zu den nüchtern zu betrachtenden Fakten: 
1990 hatten die sieben größten Industrienationen USA, Japan, Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Italien und Kanada, zusammen einen Anteil am Welt-BIP von 51 Prozent, die sieben größten Schwellenländer, E 7 genannt,  lagen im selben Jahr "abgeschlagen" bei 22 Prozent, der "Rest" bei 27 Prozent.
Schon 2018 sah und sieht es deutlich anders aus: G 7 30 Prozent, E 7 38 Prozent, der "Rest" bei 32 Prozent.
2050 werden wir den Experten-Prognosen zufolge eine nahezu komplette Umkehr der Zahlen von 1990 und damit eine völlig andere "geo-ökono-politische" Weltlage erleben:
G 7 gerade noch bei 23 Prozent Anteil am Welt-BIP, E 7 dagegen bei 50 Prozent, der "Rest" wieder zurückgefallen auf 23 Prozent.
Vor allem China unternimmt offensiv allergrößte Anstrengungen, um diese Verschiebungen, die die geopolitische Architektur massiv verändern wird, nachhaltig voranzutreiben und vor allem zu seinen eigenen Gunsten zu beeinflussen. So jüngst erst wieder - unter viel zu wenig Beachtung vor allem der Europäer - geschehen auf dem 10. BRICS-Gipfeltreffen, das vom 25. bis 27. Juli in Südafrika stattfand. Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika haben sich zusammengeschlossen, um - so wörtlich - "die gemeinsame Entwicklung angesichts der Veränderungen auf der internationalen Bühne weiter zu fördern und eine solide Grundlage dafür zu schaffen, um auf der Weltbühne eine größere Rolle spielen zu können".
Das gewachsene Selbstbewusstsein brachten die BRICS-Repräsentanten deutlich zum Ausdruck, indem sie festhielten: "Zum Beispiel haben wir dazu beigetragen, die Präsenz der Entwicklungsländer im Internationalen Währungsfonds und in der Weltbank zu erhöhen, wodurch der Block, der etwa 40 Prozent der Weltbevölkerung und ein Viertel der Weltwirtschaft repräsentiert, ein Beschleuniger der Reform des Systems der globalen Wirtschaftsgovernance wurde."
Statt sich jetzt aber auf diese ja nun wahrhaft globale Herausforderung zu konzentrieren, leistet sich der Westen einen zumindest drohenden Handelskrieg, der heute schon Veränderungen in der Weltpolitik hervorgerufen und bewirkt hat, die vor noch gar nicht langer Zeit für nahezu unmöglich gehalten wurden.
Da sind zunächst der amerikanische Präsident Donald Trump und seine "America first"-Politik ursächlich: Die Androhung und Durchsetzung, die Zurücknahme und dann doch Realisierung von sogenannten "Strafzöllen" haben jahrzehntelange "Gültigkeiten" verschoben, verändert und außer Kraft gesetzt. Juncker konnte zwar zumindest fürs erste das Schlimmste verhindern bzw. abwenden, aber schon die Überschrift des Handelsblattes hierzu - "Durchbruch dank Sojabohnen" - sowie die zurückhaltenden Reaktionen des französischen Staatspräsidenten Macron zeigen denkbare "Bruchstellen" auf.
Der chinesische Staatspräsident Xi Jinping sprang und springt den durch Trump spürbar verunsicherten und in ihren Reaktionen ebenso unabgestimmten wie teilweise hilflosen Europäern, die wie Schulmädchen und Schulbuben einzeln "beim Rektor" in Washington vorsprachen, sich demütigen ließen und erfolglos in ihre Hauptstädte zurückkehrten, gerne bei. Die Überschriften nach dem EU-China-Gipfel in Peking Mitte Juli diesen Jahres lauteten: "Charmeattacke aus Fernost" oder "Die EU und Chinesen rücken näher zusammen" sowie "Neue Freunde in Fernost". Nicht nur das beachtliche Handelsdefizit in Höhe von mehr als 176 Milliarden Euro, sondern auch die zunehmende Einkaufstour Chinas in Europa und hier überwiegend in Deutschland - im ersten Halbjahr 2018 beteiligten sich chinesische Investoren an 22 deutschen Unternehmen - und die "neue Seidenstraße" werden Europas (Wirtschafts-)Politik verändern (müssen).
Und dann ebenfalls noch im Juli 2018 die "historische Antwort auf Trumps Attacken"; gemeint ist das "Japan-EU Free Trade Agreement", JEFTA, das nach Meinung vieler Beobachter "die Machtverhältnisse in der Welt verschieben könnte".
Jean-Claude Juncker, EU-Ratspräsident Donald Tusk und Japans Premier Shinzo Abe haben damit eine "gigantische Freihandelszone" gegründet: Das Abkommen betrifft einen Markt, der 600 Millionen Menschen umfasst, für 30 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts und 40 Prozent des globalen Warenaustauschs steht.Die 560 Seiten des neuen europäisch-japanischen Dokuments senden eine eindeutige Botschaft aus: dass sich die ökonomischen Machtverhältnisse verschieben; dies zuungunsten Amerikas. Jefta ist für beide Seiten der bislang größte Handelsdeal, den sie bisher in ihrer Geschichte wagten und eingingen. Dieser gewaltige Deal eliminiert 99 Prozent aller Handelsbarrieren zwischen der EU und Japan. Zölle werden aufgehoben, Gesetze angeglichen und sogar das Pariser Klimaschutzabkommen ist Bestandteil des Abkommens. Insgesamt glänzende Perspektiven für einen weiteren Ausbau des Handels zwischen Japan und der EU, der gegenwärtig mit ca. 70 Milliarden Euro Export aus Japan in die EU und umgekehrt mit ca. 60 Milliarden Euro Export aus der EU nach Japan zu Buche schlägt.
Damit nicht genug. Plötzlich geht es Schlag auf Schlag: Mit dem südamerikanischen Staatenbund Mercosur stehen die Gespräche vor dem Abschluss: Im Handel mit Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay, einem Wirtschaftsraum mit mehr als 300 Millionen Verbrauchern, sollen 90 Prozent der Zölle wegfallen. In den Verhandlungen mit Mexiko gab es im Frühjahr einen Durchbruch, mit Australien und Neuseeland wurden kürzlich offizielle Gespräche über ein Abkommen vereinbart. Abkommen mit Vietnam und Singapur sind abgeschlossen, das Ceta-Freihandelsabkommen mit Kanada ist bereits vorläufig in Kraft. Mit Indien und Indonesien gibt es Gespräche. Und für die fernere Zukunft wird schon die Idee eines Freihandelsabkommens mit China sondiert.
Alles "in Butter" also für die EU? Eher nicht: Bundeskanzlerin Angela Merkel nannte in ihrer traditionellen Sommerpressekonferenz vor ihrem Urlaub im Juli 2018 nicht ohne Sorgen die geopolitischen Verlagerungen und deren Bedeutung für die EU als einen zentralen Punkt für ihre Politik der nächsten Monate und Jahre. Merkel sah angesichts der Versuche die EU zu spalten, woran die USA unter Trump, aber auch China und Russland arbeiteten, die Wahrung der Geschlossenheit der EU als entscheidend für ihre Zukunft an. Nicht nur deshalb ist Geschlossenheit gefragt, sondern auch hinsichtlich gemeinsamer Verantwortung: Vor allem gegenüber Afrika. Der Kontinent wird bis 2050 seine Bevölkerungszahl auf drei Milliarden Menschen verdoppeln. Nicht alleine wegen der hohen Flüchtlingszahlen, sondern auch und vielleicht sogar vor allem unserer Werte wegen ist die EU hier massiv gefordert, für bessere Lebensbedingungen zu sorgen.
Das Vereinigte Königreich draußen, Serbien, Albanien, Staaten des westlichen Balkans drinnen - das wird die EU verändern, zu einer anderen EU führen, als wir sie heute kennen. Bei all diesen gravierenden geopolitischen Veränderungen muss allen, die an einer guten Zukunft Europas Interesse haben, unmissverständlich klar sein: Die EU hat nur dann eine Chance, auch weiterhin eine ökonomisch und geopolitisch bedeutende Rolle in der Welt zu spielen oder zumindest doch von den "Großmächten" wenigstens ernst genommen zu werden, wenn sie geschlossen auftritt und sich endlich auch auf den Weg macht, ihre sicherheitspolitischen Interessen wahrzunehmen; sprich: die Verteidigungsaufgaben zunehmend in die eigene Hand zu nehmen.
Die Perspektiven für unsere Wirtschaft sind dann weiterhin glänzend und damit auch die für den Wohlstand der Bevölkerung der EU-Mitgliedsstaaten sowie auch derer, die in den nächsten Jahren noch dazu kommen werden. Wir alle - insbesondere aber die europäischen Unternehmer, Vorstände und Führungskräfte - müssen uns anstrengen, damit Europa auch in Zukunft der beste Ort für Friede, Freiheit, Demokratie sowie Wohlstand und damit der lebenswerteste Teil der Welt bleibt - allen globalen Kräfteverschiebungen zum Trotz!
© Dr. Walter Döring

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