Zeitenwende – und wie die EU darauf reagiert


Der frühere SPD-Bundesvorsitzende sowie Ex-Bundesminister und Ex-Vizekanzler Sigmar Gabriel hat ein Buch geschrieben, das er sehr aktuell mit „Zeitenwende“ betitelt.
Ja, wir leben gegenwärtig in einer sehr umfassenden Zeitenwende; EU-Kommissionspräsident Jean Claude Juncker formulierte drastisch-dramatischer: „Wir durchleben eine Polykrise“.
Ich bleibe bei „Zeitenwende“. Diese hat globale Ausmaße, wenn man sich einmal nur stichwortartig einige „Brenn- und Wendepunkte“ vor Augen hält: Brexit, Syrien, Migration, Ungarn und Polen, Populismus, Iran, Nordkorea, Terrorismus, Handelskrieg, China, Klimawandel, Putin, Erdogan und natürlich immer wieder auch Trump.
Hinzu kommen von der allgemeinen Öffentlichkeit kaum wahrgenommene gravierende ökonomische Kräfteverschiebungen von den G7 hin zu den E7: Der Anteil am Welt-Brutto-Inlands-Produkt, „Welt-BIP“, verschiebt sich von den G7 USA, Japan, Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Italien und Kanada hin zu den E7 China, Indien, Russland, Indonesien, Brasilien, Mexiko und Türkei: Hatten die G7 1990 noch einen Anteil am Welt-BIP von mehr als 50 Prozent, beträgt dieser heute noch 30 Prozent und wird bis 2050 auf nur noch 23 Prozent absinken, sich also mehr als halbieren, während er für die E7 von 22 Prozent 1990 über 28 Prozent heute auf 50 Prozent in 2050 ansteigen, sich also mehr als verdoppeln  wird. Klar, dass die E7 ebenso wie die BRICS-Staaten als Ziel ausgeben: „Wir wollen und werden auf der Weltbühne eine größere Rolle spielen; es ist Zeit für eine auch ökonomische Zeitenwende“.
Eine Zeitenwende der besonderen Art gilt auch für die deutsche Bundeskanzlerin: War sie bis 2015 noch das Gesicht Europas und galt als mächtigste Frau der Welt, die das Titelblatt des TIME Magazins zierte, lächelt in der September 2018 Ausgabe vom Titelblatt der TIME Matteo Salvini, der italienische Immigrationsminister, als „The new Face of Europe“.
Weiter: Die USA und China tragen nahezu täglich mit ihrer Politik zu geradezu disruptiven Veränderungen der bisher scheinbar klaren Weltordnung bei: China schwingt sich dazu auf, die USA als Supermacht und Nummer 1 in der Welt abzulösen, und der amerikanische Präsident stellt jahrzehntelang geltende Abkommen und Gewohnheiten in Frage: NATO, WTO, Klimaabkommen, freier Handel – nichts scheint mehr sicher vor Veränderungen, was Bundeskanzlerin Angela Merkel im August 2017 zu der Feststellung veranlasste: „Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, sind ein Stück weit vorbei. Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in unsere eigene Hand nehmen“.
Sie hat damit einen für uns in der Bundesrepublik entscheidenden Teil der Zeitenwende von historischem Ausmaß mit einem einzigen Satz auf den Punkt gebracht. Wir Deutschen verdanken den USA zu einem großen Teil die deutsche Einheit, über Jahrzehnte ganz selbstverständlich militärischen Schutz, durch unsere hohe Exportrate in die USA einen gewaltigen Anteil unseres Wohlstands, worauf wir uns ganz selbstverständlich verlassen haben – was heute – zumindest „automatisch“ - so nicht mehr gilt.
Bundesaußenminister Heiko Maas sprach deshalb im August 2018 von einer „balancierten Partnerschaft“ mit den USA und betonte: „Das nationale Interesse Deutschlands hat einen Namen. Der Name lautet: Europa“.
Und auch EU-Kommissionspräsident Juncker betonte in seiner letzten Rede zur Lage der EU vor dem EU-Parlament, dass Europa auf die weltweit veränderte politische, ökonomische und militärische Situation reagieren müsse: „Es ist an der Zeit, dass Europa sein Schicksal selbst in die Hand nimmt. Die aktuelle Zeitenwende verlangt nach einer neuen Politik, auch nach neuen Partnern“.
Und die EU hat gehandelt: DIE EU und Japan reagierten mit der historischen Japan European Free Trade Association, JEFTA. Zwei seither erbitterte Wettbewerber auf den Weltmärkten läuteten damit eine Zeitenwende ein. Dieses Handelsabkommen ist ebenso eine Reaktion auf die „America first“-Politik des US-Präsidenten Donald Trump wie auf die weltweite Wirtschafts-Offensive Chinas. Es ist das größte Freihandelspaket, das die EU je abgeschlossen hat, betrifft fast 600 Millionen Verbraucher/innen, verbindet zwei der größten Volkswirtschaften der Welt und eliminiert 99 Prozent aller Handelsbarrieren zwischen Japan und der EU.
Weitere Handelsabkommen werden folgen: Die Mercosur-Länder Brasilien, Paraguay, Argentinien und Uruguay drängen auf Abkommen mit der EU. Auch Mexiko, Neuseeland, Indien, Singapur, Indonesien, Vietnam und Australien beginnen Gespräche mit der EU, um den Freihandel nicht nur zu retten, sondern zu neuen Ufern zu führen.
„Zeitenwende“ gilt aber nicht alleine für die Wirtschaft, sondern auch für das Klima: Während Trump aus dem Klimavertrag aussteigt, ratifiziert ihn China, intensivieren Japan und Kanada ihre klimapolitischen Anstrengungen und stellt die EU zehn Prioritäten zur Nachhaltigkeit auf.
Und nicht zuletzt zeigt sich die Zeitenwende, von der sowohl die Kanzlerin als auch der EU-Kommissionspräsident sprachen, auch im militärischen Bereich: Die EU verlässt sich nicht mehr „blind“ auf die USA, deren Präsident die NATO ganz nach „Tagesform“ auch mal grundsätzlich in Frage stellt, wenn es um ihre Sicherheit geht, sondern verstärkt auch hier ihre eigenen militärischen Anstrengungen.
Offensichtlich reagiert die EU umfassend auf die nahezu alle Bereiche betreffende Zeitenwende – gut so!
© Dr. Walter Döring

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