Die Legende von der Ausrufung der Republik am 9. November 1918


Keine Überraschung, dass am 9. November 2018 große Feierlichkeiten und Erinnerungsveranstaltungen anlässlich „100 Jahre Deutsche Republik“ stattgefunden haben. Der reichlich sture Kaiser Wilhelm II. war nach dem Übertritt der bis dahin besonders kaisertreuen „Naumburger Jäger“ zu den Revolutionären von Reichskanzler Prinz Max von Baden am 9. November 1918 zum Thronverzicht „bewegt“ worden, Friedrich Ebert von eben diesem Prinzen in einer „verfassungsrechtlich etwas kuriosen Weise“, so Ulrich Herbert, zum Reichskanzler bestimmt und damit Heinrich August Winkler zufolge „der revolutionäre Regierungswechsel“ vollzogen worden.

Bisher galt unverrückbar, dass am selben Tag gegen 14 Uhr der zweite Vorsitzende der MSPD, Philipp Scheidemann, ohne von Ebert dazu autorisiert worden zu sein, von einem Balkon des Reichstags die „Deutsche Republik“ ausrief. Zwei Stunden später wurde das Ende der Monarchie nochmals durch einen sehr viel weiter linksstehenden Politiker verkündet: von Karl Liebknecht, der vom Portal des Berliner Stadtschlosses aus die „freie sozialistische Republik Deutschland“ proklamierte“.

„Rief Scheidemann tatsächlich die Republik aus?“, fragte Lothar Machtan am 5. April 2018 in der ZEIT und führte dazu – alles bisher dazu Gelehrte und Gelernte über den Haufen werfend - weiter aus: „Es ist eine schöne Geschichte. Aber sie hat einen Haken: Sie ist zu nicht unerheblichen Teilen eine nachträgliche Erfindung. Eine Blüte deutscher Erinnerungskultur, politisch erwünscht, wissenschaftlich aber unhaltbar“. Machtan stellte das berühmte Bild mit Scheidemann auf der Balkonbrüstung des Reichstags in diesem Aufsatz rundum infrage – „die Männer auf dem Balkon kann man nicht identifizieren, schon gar nicht ist zu erkennen, ob es sich um den 53-jährigen Scheidemann handelt, der sich da akrobatisch und schwindelfrei auf äußerst schmaler Balkonbrüstung bewegt“ – und fügte hinzu: „Fotoexperten halten das Bild für eine Montage“. Seiner Darstellung nach gibt es authentische Aufnahmen von Scheidemann. So eine vom 6. Januar 1919 und vor allem ein „inszeniertes Foto an einem Fenster der Reichskanzlei“ von 1928, „wo er, zum zehnten Jahrestag, die Republik noch einmal ausrufen soll“.

Lothar Machtan zweifelte jedoch nicht nur die Echtheit dieses berühmten, aber wohl falschen Bildes von der Ausrufung der Republik 1918, sondern auch den 100 Jahre lang überlieferten Text der „Ausrufung“ an: „Sowenig es echte Fotos oder Filmaufnahmen der „Ausrufung“ gibt, so wenig verlässlich ist überliefert, welche Sätze Philipp Scheidemann an jenem 9. November denn überhaupt gesprochen hat. Vieles deutet darauf hin, dass es sich bei seiner Rede nicht um das handelte, was später daraus gemacht wurde: eine feierliche Verkündung der Republik, ein gleichsam offizieller Gründungsakt des demokratischen Deutschland“. Zum Beleg seiner These, dass eine „Scheidemann-Legende in die Welt gesetzt wurde“, um „Identitätsstiftendes“ vorweisen zu können, führte Machtan einen Bericht aus dem „Neuen Wiener Journal“ an, in welchem ein Redakteur, der „dabei war“, eine knappe Nachricht geschrieben hatte: „Scheidemann hielt eine Ansprache, worin er sagte: Der Kaiser und der Kronprinz haben abgedankt. Die Dynastie ist gestürzt. Ein herrlicher Sieg des deutschen Volkes“. Machtan: „Mehr war da wohl nicht“. Auch einer Tonaufnahme von 1920, in welcher Scheidemann seine Rede für den Aufbau eines „phonografischen Lautarchivs“ wiederholte, war und ist nach Machtan nichts „wirklich Historisches“ zu vernehmen, weshalb sie auch „so gut wie keine Beachtung fand“. Scheidemann selbst erwähnte im ersten Band seiner 1921 erschienenen Erinnerungen „keinen einzigen Satz zu seiner Rede“. Das änderte sich 1928. Zum zehnten Jahrestag der Novemberrevolution erschienen seine zweibändigen „Memoiren eines Sozialdemokraten“. Machtan: „Jetzt wollte er sich endlich als Gründervater der Republik etablieren – und Friedrich Ebert, seinen ewigen innerparteilichen Konkurrenten, auf die hinteren Plätze verweisen. „Als ich die Republik ausrief“, schreibt er nun unverhohlen. Was er nur deshalb wagen konnte, weil die beiden prominentesten Zeitzeugen inzwischen tot waren, die ihm sicher heftig widersprochen hätten: Karl Liebknecht und Friedrich Ebert selbst“. Scheidemann, so Machtans Urteil, „wollte die Welt glauben machen, dass er, nicht Ebert, am 9. November der wirklich führende Sozialdemokrat gewesen sei“. Diese Selbsterhöhung fiel jedoch keineswegs auf den erhofften fruchtbaren Boden: Weder die Parteipresse würdigte seine Memoiren, noch fand Scheidemann in einer Rundfunkrede Erwähnung, die der sozialdemokratische Reichsinnenminister Carl Severing 1928 zum Jahrestag der Revolution gehalten hatte. 

Die KPD polemisierte gegen Scheidemann, was so wenig überrascht wie später die „erbarmungslose Hetze“ der Nationalsozialisten gegen den „Novemberverbrecher“ Scheidemann, der 1933 ins Exil floh, wo er 1939 in Kopenhagen starb. Machtan zufolge erreichte Scheidemann „postum, was er gewollt hatte. Seine Legende entfaltete sich zu voller Blüte“, die anhielt und 1965 von Willy Brandt weiter am Leben gehalten wurde, als er die Straße an der Südseite des Reichstagsgebäudes nach Scheidemann benannte. Im Reichstagsgebäude befindet sich heute eine Gedenktafel mit den Worten: „Von diesem Balkon rief der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann am 9. November 1918 die Deutsche Republik aus“. Machtan: „Die Mühe einer quellenkritischen Untersuchung hat sich bis heute keiner gemacht. Dafür ist die Geschichte von der Ausrufung der Republik wohl einfach zu schön“.

 © Dr. Walter Döring

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Stoppt die (Massen-)Abwanderung!

Ursula von der Leyen verdient Unterstützung!

Trotz allem: Der Menschheit ging es noch nie so gut!