Europa wacht auf
Noch vor kurzem haben sich ungezählte politische
„Beobachter“ mit ihren Abgesängen auf Europa geradezu überschlagen. Geert
Wilders in den Niederlanden, Marine Le Pen in Frankreich, die Ungarn mit Victor
Orban und die Polen mit ihrer rechtsstehenden PIS-Partei, ja auch scheinbar
machtvolle Bewegungen in Italien und selbst in Deutschland mit der AfD schienen
im Verbund mit Trump und dem Brexit die sicheren Beweise dafür zu liefern, dass
Europa „am Ende“ ist.
Nun haben die Staatschefs das 60-jährige Jubiläum der
Unterzeichnung der Römischen Verträge zwar „unter Schmerzen“, aber doch
gefeiert. Am 25. März 1957 haben die Vertreter von sechs Staaten auf dem
Kapitolshügel in Rom die Verträge zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft,
EWG, unterzeichnet. Das Ziel war klar, es war im Namen –
Wirtschaftsgemeinschaft! – verankert.
Heute scheint ein gemeinsames großes Ziel zu fehlen. Die
Mitgliedsstaaten verkeilen sich im Streit um Sparkurs, Wirtschaftsreformen,
Rechtsstaatlichkeit und Solidarität im Allgemeinen, vor allem aber in der
Flüchtlingspolitik. Und nichts hätte am 25. März 2017 in Rom die desolate Lage
der Union so klar und eindeutig symbolisieren können wie die Abwesenheit der
britischen Premierministerin Theresa May; der Union Jack wurde schon gleich gar
nicht mehr gehisst.
Trotz allem aber einigte man sich auf eine vage „Gemeinsame
Erklärung“ und erzählte was von einem „Europa der zwei Geschwindigkeiten“.
Leidenschaft sieht anders aus.
Wie, das ist derzeit erfreulicherweise zunehmend auf der
Straße zu sehen: Leidenschaftliche nicht nur Befürworter, sondern Kämpfer für
Europa. Europa erwacht; nicht durch irgendeine abgestandene Regierungserklärung
und ein im „Politsprech“ abgesondertes Statement pro Europa, sondern durch die
Leidenschaft der Straße: Seit Nationalisten und Populisten diesseits des
Atlantiks die eigenen, europäischen Werte bedrohen, wachsen die Gegenkräfte.
Man spürt das in Berlin, Wien oder Lissabon, wo jedes Wochenende Tausende auf
die Straßen gehen, um ihr Europa zu feiern. Besonders viele waren es zum 60.
Jahrestag der Römischen Verträge, als alleine in Berlin 4000 Demonstranten für die europäische Idee auf die Straße
gingen: Sie demonstrierten für ein geeintes und freies Europa und zugleich
„gegen die Rückkehr zu Nationalismus, Abschottung und Konfrontation“. Wie in
Dutzenden anderen europäischen Städten waren die EU-Fahne, T-Shirts,
Luftballons und Transparente allgegenwärtig.
Dieses „Erwachen Europas“ verdanken wir keinen Politikern,
nicht mal Martin Schulz, sondern einem „ganz normalen“ Ehepaar: Sabine und
Daniel Röder haben diese neue Bewegung, die nicht gegen etwas, sondern konkret
f ü r etwas Großartiges, für Europa, demonstriert; überall in ganz Europa.
„Pulse of Europe“ ist ihre Erfindung.
„Pulse of Europe“ kam vor wenigen Wochen erstmals auf die
Plätze. DIE ZEIT dazu am 23.März 2017: „Eine proeuropäische Graswurzelbewegung,
es gibt sie inzwischen in 60 Städten, vor allem in Deutschland, aber auch in
den Niederlanden, Frankreich, Portugal, sogar in Großbritannien. Ihre Anhänger,
inzwischen Zehntausende, treffen sich immer wieder sonntags in Freiburg, Berlin
oder Bad Kreuznach, in Lyon oder Lissabon. Oder in Frankfurt, wo alles anfing“.
Den Röders ist es gelungen, „die schweigende Mehrheit“ zu mobilisieren; gegen
all diejenigen, die den Frieden, den die EU zweifelsfrei gebracht hat, als
selbstverständlich nehmen, die Angst schüren, wo Anlass zur Freude besteht, die
gegen die EU antreten, obwohl ungezählte Umfragen belegen, dass „die glücklichsten
Menschen in Europa leben“.
Die Bertelsmann-Stiftung hat in diesen Tagen eine Studie
vorgelegt, nach der mehr als 70 Prozent aller EU-Bürger gerne in der
Europäischen Union leben. Die Zustimmung zur EU wächst wieder. Der Brexit,
Wilders, Le Pen und auch Trump scheinen mit ihrer Politik die Befürworter
Europas geradezu wachgerüttelt zu haben. Am deutlichsten sichtbar wird dies
aktuell in Frankreich, wo die größte Gefahr für die EU drohte. Emmanuel Macron,
der Präsident Frankreichs werden will, gewinnt momentan nicht nur die
TV-Duelle, sondern auch in allen Umfragen. Er spricht sich offen für die EU aus
und erhält dafür immer mehr Unterstützung und Zustimmung. In Österreich hatte
der Grüne Alexander van der Bellen für Offenheit und europäische Zusammenarbeit
geworben und so die Präsidentenwahl gegen die FPÖ für sich entschieden. Die
europäische Jugend, lange als unpolitisch und desinteressiert beklagt, geht für
die Europäische Union, für Frieden, Freiheit, offene Grenzen und natürlich auch
für „mehr Gerechtigkeit“ auf die Straßen nicht nur der europäischen Metropolen,
sondern auch auf die der Provinzstädte; gut so: Wenn nicht alles täuscht, dann
erlebt das wieder erwachende Europa gerade einen neuen, einen hoffnungsvollen
Anfang.
© Dr. Walter Döring